Entspannung – aber wie?

Suchst du einen solchen Ort, an dem du endlich mal entspannen kannst – so richtig entspannen kannst? Einen solchen Ort wirst du im Außen nicht finden, wenn du nur rein äußerlich Entspannung suchst. Klar, die Örtlichkeit kann dich unterstützen aber wirkliche Entspannung findest du nur in dir selbst.

Was ist eigentlich Entspannung? Ist Entspannung ein mentaler Zustand, ein körperlicher oder Beides?

Huhn oder Ei – was war zuerst?

Wenn ich die Evolution betrachte und die Polyvagaltheorie von Stephen Porges mit einbeziehe, dann ist Entspannung ein körperlicher Zustand, der aus der Empfindung der Sicherheit heraus entsteht, wenn auf Nervenebene (von der Neurozeption) ausreichend viele Aspekte von Sicherheit erkannt werden und vor allem die Abwesenheit einer äußeren Gefahr. Dann erreiche ich hoffentlich die Homöostase – diesen Gleichgewichtszustand meines Organsystems, der Regeneration ermöglicht.

Abwesenheit von äußeren Gefahren – das ist aber für jeden Einzelnen offensichtlich immer etwas anderes. Sicherlich kann ich versuchen mir eine unbehagliche Situation schönzureden – die innere Empfindung bleibt. Meine Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Empfindung einer Situation sind gering. 

Ich erzähle einmal kurz von mir: Als Musiker habe ich Konzerte. Konzerte waren früher für mich Zeiten größter Belastung. Wie dankbar wäre ich im Nachhinein, hätte ich damals schon alle Möglichkeiten gekannt und genutzt, die mich in dieser Belastungssituation hätten unterstützen können. So ist mittlerweile ein Kanon an Ritualen entstanden, der zu meiner Vorbereitung auf einen Auftritt gehört. Alle Bestandteile meines Ritualkanons zielen auf die Sicherheitsempfindung meines Körpers ab. Es sind grundlegende Aspekte, die ich in der Hand habe, deren Umsetzung leistbar ist.

  • Ich versuche meine Schlafenszeiten einzuhalten. 
  • Ich plane meine Essenszeiten – der Körper braucht zur rechten Zeit die richtige Nahrung. Wenn es Zeitprobleme gibt, nutze ich Nahrungsergänzung. 
  • Ich trinke jede Stunde mindestens ein halbes Glas Wasser. 
  • Ich beginne rechtzeitig mit einfachen Übungen, die meine Muskulatur lockern. Durch die Konzentration auf diese Übungen beruhigt sich mein Herzschlag. Atemübungen unterstützen dies. Auf jeden Fall übe ich nicht mehr bis zum letzten Moment. Das wäre auch mental problematisch. 
  • Ich suche rechtzeitig die Toilette auf – unter Belastung kann sich der Harndrang verstärken. 
  • Ich gehe möglichst noch einmal an die frische Luft.

Entspannung – vor allem in Stress-Situationen – kann nur entstehen, wenn mein Organismus hoffentlich optimal versorgt ist. Natürlich geht es um die regelmäßige stete Versorgung, will ich Homöostase erreichen. Ich muss meinen Körper gut im Blick haben. Sich in die Hängematte zu legen und zu warten, dass alles gut wird, funktioniert nicht. Wenn aus beruflichen Gründen der mentale Bereich übermäßig strapaziert wird, kann es aber z.B. keinen Sinn machen, auch noch den Körper zu überfordern.

Soll sich also Entspannung einstellen, habe deinen Organismus im Blick: Was führst du dir als Lebensmittel zu? Wann isst du? Trinkst du regelmäßig genug Wasser? Verbringst du ausreichend lange Zeiten an der frischen Luft? Tankst du genug Sonne? Welche Formen der körperlichen Bewegung nutzen dir wirklich?

Die Grundlage meines mentalen Gleichgewichts ist zunächst die biologische Zufriedenheit meines Organismus. Allerdings kann es da einen fatalen Teufelskreis geben, der eventuell unterbrochen werden muss. Ein Beispiel: Bin ich mental nicht im Gleichgewicht, habe ich einen erhöhten Energiebedarf – mein Körper verlangt verstärkt nach Zucker, nach schneller Energiezufuhr.

Da kann es Sinn machen sich beraten zu lassen.

Wie zeige ich dem Autonomen Nervensystem meine Dankbarkeit?

Falls ich an meinem Geburtstag ein Geschenk überreicht bekomme, habe ich gelernt mich zu bedanken. Es kann sein, dass ich mich über das Geschenk freue, weil es schön ist und für mich passend ausgewählt war. Es kann aber auch sein, dass mir das materielle Geschenk gar nicht gefällt. Dann bedanke ich mich, weil das Geschenk ein Zeichen der Wertschätzung sein sollte. Mein Dank gilt dann dieser Geste der Wertschätzung. Mein Dankeschön ist gleichzeitig auch ein Zeichen der Wertschätzung für den Überbringer des Geschenkes.

Wenn ich mich nicht bedanke, könnte es das letzte Geschenk sein, das ich überreicht bekommen habe. Dann spürt mein Gegenüber die vielleicht erhoffte Wertschätzung meinerseits nicht – vor allem, wenn die Geste des Dankeschönsagens häufiger ausblieb.

Spätestens mit meiner Zeugung bin ich beschenkt. Das Geschenk ist die Befähigung zum Leben. Es ist das zelluläre Organsystem, das durch das Geschenk der Lebensenergie stetig wächst, sich stetig verändert und die Gabe zu Wachstum und Regeneration besitzt

In meinen Meditationen stelle ich dieses Geschenk in den Mittelpunkt der Betrachtung. Wenn ich den Focus des Meditierenden zum Atem leite, lasse ich das Einatmen mit einem Gefühl verbinden, dem Gefühl der Dankbarkeit für dieses Geschenk des Lebens. Mit jedem Einatmen füllen sich meine Lungen mit Dankbarkeit. Der Atem als Bestandteil meiner körperlichen „Nahrung“ kann sich dann, angereichert mit Dankbarkeit, im Körper überall hin ausbreiten. Mein Körper ist dann voll Dankbarkeit. Ich bin voll Dankbarkeit.

Dies ist ein Beispiel des Danke-Sagens. Das Dankeschön ist liebevolle Beachtung – Achtsamkeit, die nicht bewertet sondern anerkennt, dass das Leben da ist. Auch wenn manches Körperliche mühsam ist, es hat mich bis hierhin getragen.

Dieses Zeichen meiner Dankbarkeit kann ich in jedem Moment in mir entstehen lassen. Es ist nicht an eine Form der Meditation gebunden, Je häufiger ich diese Momente der liebevollen Achtsamkeit aber in mir entstehen lasse, umso intensiver wird sich dieses Gefühl der Dankbarkeit einstellen. So kann Zufriedenheit entstehen. Vielleicht verändert sich allmählich auch mein täglicher Umgang mit diesem Geschenk der Schöpfung. Neue Gewohnheiten können sich dann positiv entfalten.

Und – es ist eine Form Dankbarkeit zu zeigen, die nichts kostet aber ein wertvoller Beitrag zur Gesundheitsprophylaxe sein kann.

Das Autonome Nervensystem – mein Freund und Helfer (Fortsetzungsbeitrag Teil 1)

Ich will erklären, was mein Verständnis von Entspannung ist, denn ich will neue und wirksame Wege in die Entspannung aufzeigen. Die Auswirkungen von Verspannung und innerer Anspannung sind immens. Also lasse ich mich auf das Thema ein.

Ohne das Autonome Nervensystem bin ich nichts – doch: tot. Das Autonome Nervensystem regelt meine wichtigen Vitalfunktionen – ist schon deshalb mein bester Freund. Wenn mein Autonomes Nervensystem mein Freund und Helfer ist, sollte ich diesen Freund besser kennenlernen. Und, wenn ich geholfen bekomme, sollte ich mich bedanken. Dazu muss ich wissen wofür und wie.

Problem: Das Thema ist riesig. Also: Wo fang ich an? Soll ich würfeln? Kopf oder … nein, nicht Zahl –  Kopf oder Bauch? Im Anfang war das Wort. Also: Kopf. Aber ohne Bauch wäre der Kopf schon längst verhungert. Vielleicht also irgendwo dazwischen. Damit wäre ich beim Stammhirn. Man nennt es auch Reptiliengehirn. Und schwups bin ich in einer Zeit, in der es den Menschen noch nicht gab. Ich gehe mal so weit zurück in der Zeit, als auch die anderen Säuger noch nicht da waren. Das ist sehr lange her.

Wenn so ein Reptil der ganz alten Art aus dem Ei schlüpfte, konnte und wusste es Alles, was es zum Überleben benötigte. Das Reptil hatte aber eines nicht: Ein Großhirn mit Großhirnrinde – also Verstand. Und so ganz ohne Verstand überlebte es. Das machte das Autonome Nervensystem.

Und was hat das mit mir zu tun?

Die Evolution vergisst nichts. Alle Systeme funktionieren noch fast genauso wie früher. Es ist nur noch etwas dazu gekommen. Dazu komme ich aber erst später.

Das Fressen und das Nicht-Gefressen-Werden befähigen zum Überleben des Individuums. Das Autonome Nervensystem ist Bestandteil einer Überlebensstrategie, ein System von Schutzmechanismen. Besser: Das Autonome Nervensystem besteht aus allen Bestandteilen, die das Überleben eines Organismus sichern. Ziel ist: Das Überleben des Individuums und das Überleben der Art.

Jetzt bin ich bei zwei Begriffen: Dem Sympathikus und seinem Gegenspieler, dem Parasympathikus.

Das ist zwar eine Vereinfachung und stimmt noch nicht ganz – aber ein Anfang ist gemacht.

Der Totstell-Reflex im Autonomen Nervensystem (Fortsetzungsbeitrag Teil 2)

Wenn man einfachste Lebewesen betrachtet, können sie etwas, was bereits Einzeller beherrschen: Nämlich erstarren. Das Erstarren ist der erste biologische Schutzmechanismus. Diesen beherrschte auch unser uraltes Reptil. Absolute Bewegungslosigkeit und das Absenken der Körpertemperatur machten bei Gefahr quasi unsichtbar. Der Fressfeind war überlistet – oft.

Der Sympathikus ist zuständig für die Mobilisation: Für Angreifen und Flüchten und sich natürlich auch dorthin zu bewegen, wo sich das Reptil aufwärmen konnte, um noch besser und in Ruhe zu verdauen und zu regenerieren. Dort nutzte es den parasympathischen Anteil des Autonomen Nervensystems, das für die Ruhe, für Regeneration und Verdauung zuständig ist.

Welchem Schutzmechanismus kann der Totstell-Reflex zugeordnet werden?

Dieser Reflex gehört zum Parasympathikus. Beim Totstellen (in der Erstarrung) ist, wie bei der Verdauung die Konzentration von Blut im Bereich der inneren Organe zu beobachten. Der Organismus schützt die lebenswichtigen Organe. Deshalb sinkt die Körpertemperatur des Reptils. Wenn das Blut im inneren konzentriert ist, kann das warme Blut nicht gleichzeitig in der außen gelegenen Muskulatur sein. 

Die Aktivierung des Sympathikus bringt das Reptilienblut wieder verstärkt in diese Muskulatur – das Reptil bewegt sich wieder geschmeidig.Und schon sind wir bei einer entscheidenden Fragestellung.

Wer oder was entscheidet innerhalb des Reptils über die Aktivierung von Sympathikus oder Parasympathikus? Ein Großhirn, also einen Verstand, hat das Reptil nicht.

Die Entscheidung wird autonom im Reptil getroffen. In der Entscheidungsinstanz müssen alle inneren Parameter aber auch die Umgebungsparameter zusammengeführt und unter dem Aspekt des Überlebens gewichtet werden. Der Psychologe Stephen Porges hat sich intensiv mit dem Thema Stress auseinandergesetzt, geforscht und sich deshalb auch mit der Entwicklung des Autonomen Nervensystems beschäftigt. Er nennt die Entscheidungsinstanz „Neurozeption„. 

Die Neurozeption bewertet auf Nervenebene die Sicherheitslage für das Individuum „Reptil“ und aktiviert entsprechend der Sicherheitslage die Schutzmechanismen, die zur Verfügung stehen. So entstehen natürliche, biologische Handlungsabläufe – ohne Zutun irgendeiner Verstandesleistung. 

  • Ein kleines Tier nähert sich (Hunger/Verteidigung) ⇒ Sympathikus ⇒ Angriff
  • Das Tier ist gefressen (satt) ⇒ Parasympathikus ⇒ Verdauung
  • Ein großes Tier nähert sich (Angst) ⇒ Sympathikus ⇒ Flucht
  • Ausweglose Situation (Todesangst) ⇒ Parasympathikus ⇒ Todstill-Reflex

Vielleicht entsteht in deinen Gedanken allmählich eine Idee, was das Ganze mit unserer menschlichen Natur zu tun haben könnte.

Wie ist das mit dem Autonomen Nervensystem nun bei uns Menschen? (Fortsetzungsbeitrag Teil 3)

Die Neurozeption ist nicht weg, der Sympathikus ist nicht weg aber der Parasympathikus hat sich zweigeteilt. Der Parasympathikus besitzt nun einen alten Reptilienanteil und einen neuen Säugetieranteil. Irgendwie findet die Evolution neue Wege das Überleben eines Individuums und das Überleben einer Art zu sichern. Zumindest trifft dies auf das Hervorbringen neuer Lebensformen zu. Bei den Säugetieren war das so. Hat die Evolution etwa einen Plan?

Welche neuen Bestandteile an Schutzmechanismen benötigt ein Säuger für die Erhaltung des Individuums und die Erhaltung der Art?

  • Eine andere Form der Brutaufzucht – das Säugen
  • Eine neue Form des Zusammenlebens – ein soziales Kontaktsystem
  • Neue Formen der Kommunikation
  • Lernen und Gedächtnisleistung
Diese Bestandteile müssen nun im Organismus auch verortet werden. Ein ganz neues Nervensystem zu bilden, ist zu kompliziert. Erweitere ich doch einfach einfach die Möglichkeiten eines vorhanden Systems und sehe dann zu, dass der neue Anteil ebenfalls autonom wird. Dies könnte die Vorgehensweise gewesen sein. (Gedacht hat die Evolution wahrscheinlich nicht.) 

Im Übergang vom Reptil zum Säuger teilt sich der Parasympathikus auf. Die Medizin kennt diese beiden paarsympathischen Stränge als ventraler und dorsaler Vagus.

  • Reptilien-Anteil – dorsaler Parasympathikus – dorsaler Vagus
  • Säugetier-Anteil – ventraler Parasympathikus – ventraler Vagus

Beide Stränge entspringen im Stammhirn. Der alte Anteil rückseitig also dorsal und der neue Anteil bauchseitig also ventral. Jetzt muss nur noch der Begriff „Vagus“ geklärt werden. Der Vagus ist ein Nerv. Besser: ein Nervengeflecht. Der vagusnerv ist der Vagabunden unter den Nerven – er hat fast überall „seine Finger drin“. Das muss auch so sein, da er viele unserer Körperfunktionen reguliert, die zum Beispiel mit Verdauung und Regeneration zu tun haben. 

Damit gestaltet sich das Autonome Nervensystem nach der Polyvagaltheorie von Stephen Porges dreigeteilt. Die Neurozeption stellt dabei als autonome Entscheidungsinstanz das Zentrum dar.

Säuger kommen übrigens viel zu früh auf die Welt: Sie beherrschen noch nicht alles, was sie zum Überleben benötigen – sie müssen lernen. Die Evolution stellt dafür das Großhirn mit seiner Großhirnrinde zur Verfügung. Das große Gehirn ist der Grund weshalb Säuger nicht noch länger ausgetragen werden können.

Beim Menschen sind aber auch die körperlichen Fähigkeiten noch lange nicht ausgereift, wenn der Mensch auf die Welt gekommen ist. Der Säugetieranteil im Autonomen Nervensystem reift noch bis wir etwa ein Alter von 12 Jahren haben. Erst dann hat z.B. der neue parasympathische Anteil sein Optimum in der Reizleitungsgeschwindigkeit erreicht. Dies geschieht durch Myelinisierung. Die ventralen Vagusnerven erhalten eine Ummantelung mit einer Fettschicht. Damit wird die Reizweiterleitung schneller und damit wird der ventrale Anteil autonom. Und da ist ja noch die Pubertät. Aber die Neurozeption bleibt. 

Wahrnehmung, Singen und ein kurzer Exkurs zu ADHS und LRS

Eine Kollegin aus der Grundschule erzählte mir von einer Chorleitungsfortbildung. Sie war durch zwei Statements des Dozenten überrascht worden: Singe in der Grundschule nur einstimmig! Lasse die Schüler eine neue Melodie sieben Mal hören, bevor du sie mitsingen lässt!

Wir Säuger hören alles, was von außen auf uns zukommt, über Luftleitung. Wir hören uns selbst aber – beim Sprechen und beim Singen – über Knochenleitung. Das Hören über Knochenleitung überlagert das Hören über Luftleitung. Wer selbst spricht oder singt, hört nicht mehr gut, was von außen aufgenommen wird.

Exkurs zu einer ADHS-Problematik

Wir haben uns auch über die Problematik von Schülern mit ADHS-Symptomen unterhalten. Ein häufig auftretendes Symptom ist unentwegtes Sprechen. Teilweise sind es auch Selbstgespräche. Diese Erscheinung ist Teil einer Selbstberuhigungsstrategie. Wir haben einen besonderen Muskel im Mittelohr, den Spapedius – Steigbügelspanner. Dieser Muskel ist für uns von größter Bedeutung, obwohl er der kleinste Muskel in unserem Körper ist. Er regelt die Spannung der Gehörknöchelchenkette und damit ist er auch an der Filterung von tief-frequenten Geräuschen aus dem umgebenden Klanggemisch. Durch diese Filterung sind wir in der Lage uns auf den Frequenzbereich der menschlichen Stimme zu konzentrieren.

Was aber, wenn der Muskel seine Funktion nicht erfüllt, wenn alle Umgebungsgeräusche das gesprochene Wort gleich laut überlagern – Stress und Chaos im Kopf sind die Folge. Das „ADHS-Kind“ muss versuchen sich zu schützen. Also spricht es mit anderen oder mit sich selbst, überlagert die Außengeräusche durch seine eigene, über Knochenleitung gehörte, Stimme – aus einer Not heraus. Seine Strategie stört Unterricht. Der Ärger ist vorprogrammiert – das Kind hatte aber keine andere Strategie anwenden können.

Warum arbeitet der Muskel nicht? Da kommt die Neurozeption ins Spiel. Die Neurozeption entscheidet über die Empfindung der Sicherheitslage und hat in der Konsequenz den Sympathikus aktiviert. Die Folge sind der Drang nach Bewegung aber auch das Ausschalten der Funktionalität des Steigbügelspanners – im Falle von Gefahr muss alles gehört. Deshalb muss der Stapedius erschlaffen.

Es gibt einfachste basale Parameter der Wahrnehmung, die Low-Level-Funktionen. Eine davon ist die Tonhöhenerkennung. Die Genauigkeit der Tonhöhenerkennung ist abhängig von der Reizleitung unserer Sinne. Da die Geschwindigkeit der Reizleitung erst im Alter von etwa 12 Jahren ihr Optimum erreicht, ist erst in diesem Alter die Tonhöhenerkennung voll ausgeprägt. Schüler eines 5. Schuljahres verstehen z.B. ironische Bemerkungen im Unterricht weniger gut. Im 6. Schuljahr dagegen fällt es ihnen leichter Ironie zu entschlüsseln. Grundschüler müssen Mehrstimmigkeit und Exaktheit sehr intensiv üben. Darunter kann die Freude am Singen an sich leiden. Die geringere Wahrnehmungsgeschwindigkeit verhindert die schnelle Reizverarbeitung und sie kollidiert dann mit einer noch nicht ganz ausgeprägten Tonhöhenerkennung.

Exkurs zu einem Themenbereich in LRS

Wenn in der Phase des Schriftsprachenerwerbs die Tonhöhenerkennung nicht ausreichend ausgeprägt ist, können bestimmte ähnlich klingende Laute nicht ausreichend differenziert wahrgenommen werden (g und k, d und t, b und p). Sie unterscheiden sich nur in den höheren Frequenzbereichen und das nur wenig. Dieses Unterscheiden ist aber eine der Wahrnehmungsgrundlagen für einen gelungenen Schriftsprachenerwerb.

Warum ist aber die Reizleitungsgeschwindigkeit nicht hoch genug? Wir haben Botenstoffe, die bei Reizleitung beteiligt sind. Diese müssen freigesetzt werden. Auch darüber entscheidet die Neurozeption.

Das „Social Engagement System“

Ich kann einem anderen Menschen friedvoll die Hand reichen, wenn ich mich sicher fühle. Mein Gegenüber muss genauso wie ich Signale der Sicherheit aussenden und empfangen. Die Grundlage dafür ist unsere grundsätzliche Sicherheitsempfindung – ich muss mich getragen fühlen – mein Gegenüber muss sich getragen fühlen. 

Nach Stephen Porges ist es die Neurozeption, die aufgrund einer Empfindung von Sicherheit das social engagement system freischaltet. Erst dann können die schnellen Nervenbahnen des Vagusnerves und der Nerven, die mit ihm gemeinsam den Vagus-Komplex bilden, die Muskeln aktivieren, mit denen Kommunikation effektiv wird: Dies sind die Muskeln für die Mimik, für unsere Augenbewegungen, für einen angenehmen und variablen Stimmklang oder für das Herausfiltern von Störgeräuschen im Gespräch. Dies ist z.B. auch der Herzmuskel, der dann einen variablen, anpassungsfähigen Herzschlag haben kann. 

Nur wenn diese, an der Kommunikation beteiligten, Muskeln in mir koordiniert arbeiten, bin ich bereit, die Empfindungen eines Mitmenschen zu erkennen. Durch den Nachvollzug der Muskelbewegungen meines Gegenübers bilde ich in mir einen Eindruck von dessen Gemütsbewegung ab. Erst dann bin ich empathisch.(Stichwort: Spiegelneuronen)

Soziale Interaktion kann für mich nur interessant bleiben, wenn ich durch eine entsprechende Hormonausschüttung belohnt werde. So wird soziale Nähe gefördert und die Grundlage für Lernen gelegt. Nur in einem solchen Kontext entstanden wird eine neue Erfahrung später im Schlaf als bedeutsam im Gehirn abgespeichert. 

Wird von der Neurozeption eine Situation als nicht sicher empfunden und aktiviert die Neurozeption in der Konsequenz den Sympathikus für Kampf oder Flucht oder gar den Reptilien-Parasympathikus für das Totstellen, verhärten sich diese Muskeln oder erschlaffen. Soziale Interaktion wird dann schwierig oder gar unmöglich.

Das Autonome Nervensystem und innere Balance

Das Autonome Nervensystem regelt die Funktion unserer Organe und unserer Reflexe – wir haben also über unseren Verstand kaum eine Möglichkeit der Beeinflussung.

Der Blick auf das Autonome Nervensystem ist zwingend notwendig, da alle grundlegenden Körperfunktionen nur dann optimal ausgeführt werden, wenn die autonome Regelung dies veranlasst. Aber auch unser soziales Handeln ist nur möglich, wenn in der autonomen Regelung keine Schutzmechanismen (Kampf, Flucht oder Erstarren) angetriggert sind.

Stephen Porges hat mit seiner „Polyvagal-Theorie“ eine neue Sichtweise auf das autonome Nervensystem ermöglicht, die auch das Bild der inneren Balance auf neue Weise verdeutlicht. 

In der Evolution entwickelten sich Schutzmechanismen zur Erhaltung der Art und des Individuums. Bereits einfache Zell-Lebewesen nutzen die Erstarrung als Möglichkeit sich vor Fressfeinden zu schützen – wer erstarrt, wird nicht gefressen. Diesen Mechanismus kennen wir auch bei Reptilien als Totstell-Reflex. Reptilien verfügen aber über einen weiteren Mechanismus – die Möglichkeit zu Angriff oder Flucht. Angriff und Flucht sind in dem autonomen Nervensystembereich manifestiert, den wir Sympathikus nennen. Das Erstarren aber ist im Gegenspieler des Sympathikus, dem Parasympathikus, verortet. Der Parasympathikus ist zuständig für De-Mobilisierung – also auch für Verdauung und Regeneration, der Sympathikus für die Mobilisierung.

Eine grundsätzliche Fragestellung muss lauten: Welche Instanz innerhalb des Reptilien-Organismus entscheidet über die Aktivierung eines der Schutzmechanismen? Ein Großhirn mit Großhirnrinde, wie wir Menschen es als Säuger haben, ist im Reptil nicht vorhanden. Porges prägt den Begriff der Neurozeption: Auf Nervenebene wird über die aktuelle Sicherheitslage entschieden und der jeweilige Schutzmechanismus aktiviert.

Unser Mensch-Sein und unsere Verhaltensweisen sind über dieses einfache Modell nicht ausreichend zu erklären. In der Entwicklung der Säugetiere verändert sich das autonome Nervensystem in einem Bereich wesentlich – ein neuer Schutzmechanismus zur Erhaltung der Art und des Individuums wird notwendig. Tun wir einmal so, als wäre die Evolution zielgerichtet in die Schöpfung der Säugetiere eingestiegen: Welche Veränderungen und Neuerungen sind notwendig, dass ein soziales Wesen entsteht, das Nähe zum Säugen und Lernen zulässt und über andere Kommunikationswege sich von Reptilien unterscheidet – sich damit über die Reptilien als Feindbild erhebt?  

Im Übergang zu den Säugetieren entwickelt sich aus dem autonomen Nervensystem der Reptilien im Parasympathikus eine Abzweigung mit schnelleren Leitungsbahnen. Durch die schnellen Nervenbahnen erlangt diese Abzweigung eine Eigenständigkeit, dass sich für uns Menschen letztlich eine deutliche Dreiteilung im Autonomen Nervensystem ergibt: Sympathikus, Reptilien-Parasympathikus und Säugetier-Parasympathikus. Stephen Porges nennt den Bereich, für den der Säugetier-Parasympathikus zuständig ist, „social engagement system“ – ein System, das soziales Handeln ermöglicht. 

So ist ein neuer Schutzmechanismus entstanden, der aktiviert werden muss. Die Entscheidung darüber liegt aber immer noch in der Neurozeption – also auf Nervenebene und auf jeden Fall nicht in unserem Großhirn.  

Was bedeutet dann innere Balance?

Die Neurozeption entscheidet auf Nervenebene über die aktuelle Sicherheitsempfindung. Innere Balance zu gewinnen bedeutet dann, den Informationsfluss durch Aspekte von tatsächlicher Sicherheitsempfindung positiv zu beeinflussen. Die Neurozeption muss möglichst häufig unseren sozialen Säugetier-Parasympathikus aktiviert halten. Dann ist unser autonomes System in Balance.