Wahrnehmung, Singen und ein kurzer Exkurs zu ADHS und LRS

Eine Kollegin aus der Grundschule erzählte mir von einer Chorleitungsfortbildung. Sie war durch zwei Statements des Dozenten überrascht worden: Singe in der Grundschule nur einstimmig! Lasse die Schüler eine neue Melodie sieben Mal hören, bevor du sie mitsingen lässt!

Wir Säuger hören alles, was von außen auf uns zukommt, über Luftleitung. Wir hören uns selbst aber – beim Sprechen und beim Singen – über Knochenleitung. Das Hören über Knochenleitung überlagert das Hören über Luftleitung. Wer selbst spricht oder singt, hört nicht mehr gut, was von außen aufgenommen wird.

Exkurs zu einer ADHS-Problematik

Wir haben uns auch über die Problematik von Schülern mit ADHS-Symptomen unterhalten. Ein häufig auftretendes Symptom ist unentwegtes Sprechen. Teilweise sind es auch Selbstgespräche. Diese Erscheinung ist Teil einer Selbstberuhigungsstrategie. Wir haben einen besonderen Muskel im Mittelohr, den Spapedius – Steigbügelspanner. Dieser Muskel ist für uns von größter Bedeutung, obwohl er der kleinste Muskel in unserem Körper ist. Er regelt die Spannung der Gehörknöchelchenkette und damit ist er auch an der Filterung von tief-frequenten Geräuschen aus dem umgebenden Klanggemisch. Durch diese Filterung sind wir in der Lage uns auf den Frequenzbereich der menschlichen Stimme zu konzentrieren.

Was aber, wenn der Muskel seine Funktion nicht erfüllt, wenn alle Umgebungsgeräusche das gesprochene Wort gleich laut überlagern – Stress und Chaos im Kopf sind die Folge. Das „ADHS-Kind“ muss versuchen sich zu schützen. Also spricht es mit anderen oder mit sich selbst, überlagert die Außengeräusche durch seine eigene, über Knochenleitung gehörte, Stimme – aus einer Not heraus. Seine Strategie stört Unterricht. Der Ärger ist vorprogrammiert – das Kind hatte aber keine andere Strategie anwenden können.

Warum arbeitet der Muskel nicht? Da kommt die Neurozeption ins Spiel. Die Neurozeption entscheidet über die Empfindung der Sicherheitslage und hat in der Konsequenz den Sympathikus aktiviert. Die Folge sind der Drang nach Bewegung aber auch das Ausschalten der Funktionalität des Steigbügelspanners – im Falle von Gefahr muss alles gehört. Deshalb muss der Stapedius erschlaffen.

Es gibt einfachste basale Parameter der Wahrnehmung, die Low-Level-Funktionen. Eine davon ist die Tonhöhenerkennung. Die Genauigkeit der Tonhöhenerkennung ist abhängig von der Reizleitung unserer Sinne. Da die Geschwindigkeit der Reizleitung erst im Alter von etwa 12 Jahren ihr Optimum erreicht, ist erst in diesem Alter die Tonhöhenerkennung voll ausgeprägt. Schüler eines 5. Schuljahres verstehen z.B. ironische Bemerkungen im Unterricht weniger gut. Im 6. Schuljahr dagegen fällt es ihnen leichter Ironie zu entschlüsseln. Grundschüler müssen Mehrstimmigkeit und Exaktheit sehr intensiv üben. Darunter kann die Freude am Singen an sich leiden. Die geringere Wahrnehmungsgeschwindigkeit verhindert die schnelle Reizverarbeitung und sie kollidiert dann mit einer noch nicht ganz ausgeprägten Tonhöhenerkennung.

Exkurs zu einem Themenbereich in LRS

Wenn in der Phase des Schriftsprachenerwerbs die Tonhöhenerkennung nicht ausreichend ausgeprägt ist, können bestimmte ähnlich klingende Laute nicht ausreichend differenziert wahrgenommen werden (g und k, d und t, b und p). Sie unterscheiden sich nur in den höheren Frequenzbereichen und das nur wenig. Dieses Unterscheiden ist aber eine der Wahrnehmungsgrundlagen für einen gelungenen Schriftsprachenerwerb.

Warum ist aber die Reizleitungsgeschwindigkeit nicht hoch genug? Wir haben Botenstoffe, die bei Reizleitung beteiligt sind. Diese müssen freigesetzt werden. Auch darüber entscheidet die Neurozeption.