Das Autonome Nervensystem und innere Balance

Das Autonome Nervensystem regelt die Funktion unserer Organe und unserer Reflexe – wir haben also über unseren Verstand kaum eine Möglichkeit der Beeinflussung.

Der Blick auf das Autonome Nervensystem ist zwingend notwendig, da alle grundlegenden Körperfunktionen nur dann optimal ausgeführt werden, wenn die autonome Regelung dies veranlasst. Aber auch unser soziales Handeln ist nur möglich, wenn in der autonomen Regelung keine Schutzmechanismen (Kampf, Flucht oder Erstarren) angetriggert sind.

Stephen Porges hat mit seiner „Polyvagal-Theorie“ eine neue Sichtweise auf das autonome Nervensystem ermöglicht, die auch das Bild der inneren Balance auf neue Weise verdeutlicht. 

In der Evolution entwickelten sich Schutzmechanismen zur Erhaltung der Art und des Individuums. Bereits einfache Zell-Lebewesen nutzen die Erstarrung als Möglichkeit sich vor Fressfeinden zu schützen – wer erstarrt, wird nicht gefressen. Diesen Mechanismus kennen wir auch bei Reptilien als Totstell-Reflex. Reptilien verfügen aber über einen weiteren Mechanismus – die Möglichkeit zu Angriff oder Flucht. Angriff und Flucht sind in dem autonomen Nervensystembereich manifestiert, den wir Sympathikus nennen. Das Erstarren aber ist im Gegenspieler des Sympathikus, dem Parasympathikus, verortet. Der Parasympathikus ist zuständig für De-Mobilisierung – also auch für Verdauung und Regeneration, der Sympathikus für die Mobilisierung.

Eine grundsätzliche Fragestellung muss lauten: Welche Instanz innerhalb des Reptilien-Organismus entscheidet über die Aktivierung eines der Schutzmechanismen? Ein Großhirn mit Großhirnrinde, wie wir Menschen es als Säuger haben, ist im Reptil nicht vorhanden. Porges prägt den Begriff der Neurozeption: Auf Nervenebene wird über die aktuelle Sicherheitslage entschieden und der jeweilige Schutzmechanismus aktiviert.

Unser Mensch-Sein und unsere Verhaltensweisen sind über dieses einfache Modell nicht ausreichend zu erklären. In der Entwicklung der Säugetiere verändert sich das autonome Nervensystem in einem Bereich wesentlich – ein neuer Schutzmechanismus zur Erhaltung der Art und des Individuums wird notwendig. Tun wir einmal so, als wäre die Evolution zielgerichtet in die Schöpfung der Säugetiere eingestiegen: Welche Veränderungen und Neuerungen sind notwendig, dass ein soziales Wesen entsteht, das Nähe zum Säugen und Lernen zulässt und über andere Kommunikationswege sich von Reptilien unterscheidet – sich damit über die Reptilien als Feindbild erhebt?  

Im Übergang zu den Säugetieren entwickelt sich aus dem autonomen Nervensystem der Reptilien im Parasympathikus eine Abzweigung mit schnelleren Leitungsbahnen. Durch die schnellen Nervenbahnen erlangt diese Abzweigung eine Eigenständigkeit, dass sich für uns Menschen letztlich eine deutliche Dreiteilung im Autonomen Nervensystem ergibt: Sympathikus, Reptilien-Parasympathikus und Säugetier-Parasympathikus. Stephen Porges nennt den Bereich, für den der Säugetier-Parasympathikus zuständig ist, „social engagement system“ – ein System, das soziales Handeln ermöglicht. 

So ist ein neuer Schutzmechanismus entstanden, der aktiviert werden muss. Die Entscheidung darüber liegt aber immer noch in der Neurozeption – also auf Nervenebene und auf jeden Fall nicht in unserem Großhirn.  

Was bedeutet dann innere Balance?

Die Neurozeption entscheidet auf Nervenebene über die aktuelle Sicherheitsempfindung. Innere Balance zu gewinnen bedeutet dann, den Informationsfluss durch Aspekte von tatsächlicher Sicherheitsempfindung positiv zu beeinflussen. Die Neurozeption muss möglichst häufig unseren sozialen Säugetier-Parasympathikus aktiviert halten. Dann ist unser autonomes System in Balance.